Brüssels verspieltes Gesicht

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Mit mehr als 500 Jugendstilgebäuden und vier Häusern von Architekt Victor Horta, die zum Unesco-Weltkulturerbe zählen, ist Brüssel eine europäische Hochburg des „Art Nouveau“. Ein Ausflug in den Jugendstil.

Ständig brennen die Augen vom Rauch. Ständig rinnt die Nase, weil die kalte Luft hartnäckig durch die Tür- und Fensterritzen zieht. Ständig kommen düstere Gedanken, weil weder Licht noch Luxus das Gemüt erhellen. Der junge belgische Architekt Victor Horta hatte genug davon. Ende des 19. Jahrhunderts verabschiedet er sich von dicken Steinmauern. Er baut jetzt mit Stahl und Glas. Schmiedeeisene Balkone, geschwungene Fensterrahmen, unverkleidete Eisenträger, licht durchflutete Räume und Treppenhäuser – moderne Materialien setzt Horta funktionell und ästhetisch ein. 1893 verjagt er mit dem Wohnhaus Tassel als erstes Jugendstil-Gesamtkunstwerk die Dunkelheit und Tristesse aus dem Alltag. Alles ist neu und ungewöhnlich an dem Haus: Es gibt elektrisches Licht, Wasserleitungen, Heizung und Klimaanlage. Jedes Schlafgemach verfügt über ein Bad mit Toilette und Ankleidezimmer. Ein Skandal, der Hortas Auftragslage keineswegs schadet. Ein Jahr später entwirft er ein ähnliches Haus für den Industriellen Solvay, 1898 folgt das Haus Van Eetvelde und 1900 beendet Horta die Arbeit an seinem eigenem Wohnhaus und Atelier, das heutige Hortamuseum. Alle Vier gehören zum Unesco-Weltkulturerbe und sind Zeitzeugen für eine neue Art zu leben.

Moderne Technik mit viel Schnörkel: Brüssel

Ein Stuhl darf auch schön sein, dachte sich Horta wohl, als er über seinen Plänen brütete. Jeder Alltagsgegenstand erfüllt eine Funktion und hat ein eigenes Design. Horta lässt sich von der Natur inspirieren und setzt auf Gegensätze. Spiegel machen die kleinen Räume größer. Das Personal huscht unsichtbar auf einer eigenen Treppe durchs Haus. Dieser Luxus macht Eindruck auf Hortas Freimaurerfreunde. Sie schätzen seine Liebe zum Detail und verschaffen ihm öffentliche Aufträge. So baut Horta die Zentrale der Sozialistischen Partei, das Volkshaus. Es ist das größte Jugendstilhaus – und wird trotz vieler Proteste 1965 von der krisengeschüttelten Genossenschaft abgerissen.

Bunte Figuren auf Wänden: Comics

Frauenfiguren, umschlungen von weißen Tüchern. Pflanzen, ineinander verwebt zu einem geometrischen Muster, Naturfarben und Goldelemente – dekorative Fassaden spielen in Brüssel eine große Rolle. Im Jugendstil wurden die schmalen Häuser kunstvoll mit einem Sgraffito verziert. Das ist eine spezielle Putz- und Kratztechnik, die besonders gut am Haus von Architekt Paul Cauchie zur Geltung kommt. Früher waren die Hausmauern mit Sgraffitos verziert, heute sind es Comic-Helden wie Tim und Struppi oder Lucky Luke. Viele dieser Comic-Figuren wurden von belgischen Zeichnern zum Leben erweckt und zieren die Hauswände der Innenstadt. 1991 wurde die erste Mauer bemalt, seit dem kommen pro Jahr zwei neue Comic-Fassaden dazu. Die Belgier sind begeistert von den bunten Figuren und schufen ein eigenes Comic-Museum: Es ist ein ehemaliges Kaufhaus von Horta mit imposanter Glaskuppel und luftigen Galerien.

Schattenseiten des Genies: Horta

Bei gesellschaftlichen Feierlichkeiten steht Horta am liebsten selbst im Mittelpunkt und ist in jeder Hinsicht ein Perfektionist: Stundenlang brütet er über seinem voll geräumten Holzschreibtisch. Der Radiergummi ist immer in Reichweite. Für jedes Detail fertigt er einen Prototyp. Nie ist er zufrieden. Selbst als er vom König den Titel Baron verliehen bekommt, wirkt er verbittert, weiß Kunsthistoriker Valentin Thijs. Zwei Jahre vor seinem Tod vernichtet Horta einen großen Teils seines Archivs und seiner Memoiren. Die Zeit des Jugendstils ist vorbei. Die Menschen sind der Perfektion überdrüssig und können den „Kitsch“ nicht mehr sehen. Gedankenlos werden Jugendstilbauten zerstört. Doch Brüssel rettete einige Jugendstilschätze und bewahrte sich so sein architektonisches Erbe. Daher hat sich schon manch einer bei einem Spaziergang durch die verschiedenen Stadtviertel Haus für Haus in Brüssel verliebt.

 

 

 

Jugendstil mit allen Sinnen in Brüssel erleben

 

Schmecken:

Les Brigittines, Aux Marches de la Chapelle

Kapellemarkt 5, 1000 Brüssel

Eines der schönsten Jugendstilrestaurants Brüssels mit ausgezeichneter Küche.

 

Brasserie Horta

 

Zandstraat 20, 1000 Brüssel

Untergebracht im Comic-Museum, ein perfekter Ort für ein Mittagessen.

 

Bozar Brasserie

 

Rue Ravenstein 23, Brüssel

Feines Abendlokal im Horta-Style.

 

Taverne du Passage

 

Galerie de la Reine 30, 1000 Brüssel

Ideal für einen Mittagslunch – aber lassen Sie die Nachspeise weg. In der Passage reiht sich ein Schokoladengeschäft nach dem anderen. Probieren ist Pflicht!

 

Brusselicious 2012

 

2012 ist Gourmetjahr in Brüssel: Es gibt Sonderausstellungen und Veranstaltungen rund um kulinarische Genüsse.

 

Sehen:

 

Maison Autrique

 

Chaussée de Haecht 266, 1030 Brüssel

Das erste private Stadthaus baute Victor Horta 1893 für seinen Freimaurerfreund Eugéne Autrique. Heute beherbergt das Haus eine zum Teil skurrile Sonderausstellung über Hortas Leben.

 

Victor Hortas Privathaus und Atelier „Hortamuseum“

 

Rue Americaine 25, 1060 Brüssel

Startpunkt für alle, die in die Welt Hortas eintauchen möchten.

 

Kaufhaus Waucquez, Belgisches Comic-Museum

 

Rue de Sables 20, 1000 Brüssel

1903 entwarf Horta das Kaufhaus für einen Stoffgroßhändler. Heute ist in dem Gebäude das Comic Museum sowie die Brasserie Horta untergebracht. Der Besuch lohnt sich dreifach: Leckeres Essen, interessante Comic-Austellung und beeindruckende Architektur.

 

Bahnhof Brüssel-Central

Carrefour de I’Europe 2, 1000 Brüssel

Erst fünf Jahre nach dem Tod Hortas wurde sein Zentralbahnhof eingeweiht. Sehenswert: Horta-Galerie mit restaurierter Rolltreppe.

 

Maison Cauchie

Rue des Francs 5, 1040 Brüssel

Paradebeispiel der Sgraffito-Technik: 1905 baute der Architekt Paul Cauchie das Haus für sich.

 

Jubelparkmuseum

 

Parc de Cinquantenaire 10, 1000 Brüssel

Im Juni 2012 werden sechs neue Säle im Jubelparkmuseum eingeweiht, die ganz dem Jugendstil und Art Deco gewidmet sind. In einem Raum wird ein vollständiger Wintergarten von Horta aus vergoldetem Stahl, Gals und Marmor ausgestellt.

 

 

Hören:

 

Bozar – Palast der schönen Künste

 

Ravensteinstraat 23, 1000 Brüssel

Ein riesiger Gebäudekomplex mit Ausstellungsräumen, Konzerthallen und Top-Brasserie. Nicht verpassen: klassisches Konzert in Hortas Jugendstilkonzerthalle!

 

Fühlen:

 

Maison Frison

 

Rue Lebeau 37, 1000 Brüssel

1894 baute Victor Horta für Rechtsanwalt Frison das Stadthaus mit den großen Fenstern und Wintergarten. Erst vor kurzem hat die Modeschöpferin Anna Heylen das Haus vorbildhaft renoviert und zeigt in den Räumen ihre neuesten Werke.

 

Riechen:

 

Maison A. Niguet

 

Blumenhandlung Daniel Ost

Rue Royale 13, Brüssel

Der Blumenkünstler Daniel Ost renovierte das Jugendstil-Schmuckstück von Paul Hankar und verkauft hier ausgefallene Blumenarrangements.

 

 

Schlafen:

 

Crowne Plaza Brüssel

 

Rue Gineste 3, 1210 Brüssel

Ruhige, zentrale Lage. Nicht weit vom Nord-Bahnhof und der Innenstadt entfernt.

 

Jugendstil Biennale

Alle zwei Jahre an den letzten vier Oktoberwochenenden werden die Tore zu vielen Privathäusern des Jugendstils geöffnet. Nächste Biennale: 2013.

 

Infos:

www.flandern.at

www.visitbruessels.be

 

Sprache: Englisch, Französisch, Niederländisch

 

Anreise: von Wien aus am besten mit dem Flugzeug. Air Brussels bietet gute Verbindungen für einen Wochenendtrip, Hin- und Rückflug gibt es ab 99 Euro alles inklusive. www.brusselsairlines.com

Der Flughafen ist 14 Kilometer von Brüssel entfernt. Alle 20 Minuten fährt eine Bahn zu den Bahnhöfen Brüssel Süd, Central und Nord. Karten gibt es am Bahnhof oder Flughafen. Im Zug ist ein Ticketkauf mit Aufschlag möglich. Ein Ticket kostet rund sechs Euro.

 

Unterwegs in Brüssel: Die Jugendstilschätze können Sie in Brüssel gut zu Fuß entdecken. Bei schlechtem Wetter kommen Sie trocken mit der U-Bahn (eine Fahrkarte kostet zwei Euro) oder per Taxi weiter.

 

 

 

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